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Zu den Angriffen auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr in der Silvesternacht 2022/23

/ Forschung

Offene Stellungnahme für das BMFSFJ und Übersicht über die Medienbeiträge des DeZIM

Niklas Harder, Jannes Jacobsen, Frank Kalter, Cihan Sinanoglu, Andreas Zick

Die gewaltsamen Ausschreitungen und Angriffe gegen Sicherheits- und Rettungskräfte in der Silvesternacht
wurden in den öffentlichen und politischen Diskursen direkt nach der Nacht und auch noch Tage später oft mit
dem „Migrationshintergrund” der Täter in Verbindung gebracht. Dies bedeutet, dass die nationale Herkunft der Täter oder die ihrer Eltern als primäre oder sogar singuläre Erklärung für diese Ereignisse herangezogen wurde. Diese Interpretation der Ereignisse prägte anschließend auch die Debatte um mögliche Konsequenzen. Sie ist aber aufgrund der Qualität und des Umfangs der verfügbaren Informationen und Daten zu den Vorfällen sowie auf der Grundlage von Forschungen zum Einfluss des Migrationshintergrundes auf kriminelle Handlungen nicht berechtigt. Vielmehr stellt sie neben einer Vorverurteilung ganzer gesellschaftlicher Teilgruppen auch eine verzerrte und dadurch unangemessene Analyse der Gewaltakte dar.

Die Fachkommission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit hat vorgeschlagen, statt von „Migrationshintergrund” von „Migrationsgeschichte” zu sprechen. Die Frage, ob eine eigene Migrationsgeschichte oder eine solche in der Familie einen kausalen Einfluss auf die Ausschreitungen hatten, lässt sich aufgrund der Natur der Frage wohl auch mit größerem Aufwand nicht seriös statistisch klären. Es spricht allerdings vieles dafür, dass wir es eher mit allgemeinen Risikofaktoren zu tun haben, die bei Jugendlichen aus Familien mit Migrationsgeschichte überproportional häufig anzutreffen sind.

Zunächst stellt sich zur Einordnung der Ereignisse in der Silvesternacht die Frage, ob es überhaupt einen auffälligen bzw. überzufälligen statistischen Zusammenhang gibt. Dies führt zur Frage nach den angemessenen Nennern für die Zahlen über die Täter. Diese müssen in zwei Richtungen verglichen werden:

Sind unter den Tätern wirklich auffallend viele mit Migrationsgeschichte?

Es ist bekannt und vielseitig sichtbar, dass „eventhafte” gewaltsame Übergriffe besonders häufig mit männlichenJugendlichen und mit städtischen Gelegenheitsstrukturen verbunden sind. Dies lässt sich beispielsweise auch in der Ultra-Fanszene, bei Randalen am ersten Mai, in der Querdenkerszene oder auch in der Schinkenstraße in Palma auf Mallorca beobachten. Dass im Zuge polizeilicher Maßnahmen in der Silvesternacht in Neukölln in großer Mehrzahl Personen mit Migrationsgeschichte in Gewahrsam genommen wurden, ist aus statistischer Sicht nicht überraschend. In Berlin haben laut Mikrozensus rund 50 Prozent der Bevölkerung im Alter von 15 bis 20 Jahren einen Migrationshintergrund – wir können davon ausgehen, dass es in Nord-Neukölln rund um die Sonnenallee, die Hermannstraße sowie die Karl-Marx-Straße nochmal deutlich mehr Personen sind. Rein statistisch gesehen, haben Personen mit Migrationshintergrund in diesem Bezirk somit eine entsprechend höhere Wahrscheinlichkeit als im städtischen Durchschnitt, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden. Die demographische Zusammensetzung der Festgenommenen entspricht somit wenig überraschend in etwa der Neuköllner Demographie unter jungen Menschen. An dieser Stelle sei jedoch ergänzend darauf hinzuweisen, dass es für die Öffentlichkeit bislang unklar ist, ob die Verhafteten in Neukölln oder Berlin gemeldet sind, oder ob es hier auch Anzeichen für einen innerstädtischen bis (inter-)nationalen Eventtourismus gibt.

Aufgrund wissenschaftlicher Kriterien (z.B. aus der Umfrageforschung) ist es zudem unzulässig, von den Merkmalen der Verhafteten auf die Grundgesamtheit aller Gewalttäter zu schließen. Dafür müssten entweder alle Gewalttäter verhaftet worden sein (dies entspräche einer Vollerhebung) oder die Verhaftung gänzlich zufällig durchgeführt worden sein (dies entspräche einer Zufallsstichprobe). Beides ist unplausibel. Verallgemeinerungen wie die Aussage, dass die Mehrheit der Gewalttäter eine ausländische Staatsangehörigkeit haben, sind aufgrund der momentan vorliegenden Daten wissenschaftlich nicht haltbar. Trotzdem wird die Debatte zu einem großen Teil auf Grundlage dieser Behauptung geführt.

Sind unter den migrantischen Jugendlichen auffallend viele Täter?

Es muss betont werden, dass der Personenkreis, der von polizeilichen Maßnahmen in der Nacht betroffen war, relativ gesehen nur einen Bruchteil der Personen darstellt, die eine Migrationsgeschichte haben (in absoluten Zahlen waren es nach einer Korrektur der Berliner Polizei 38 Festnahmen aufgrund der Ausschreitungen. Darunter waren laut Angaben der Polizei „ein Drittel”, also wohl 13 (!) Personen, Nichtdeutsche und etwa zwei Drittel deutsche Staatsbürger). Es ist somit wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Gewalt während der Silvesternacht keineswegs ein Massenphänomen darstellt. Aus statistischer Perspektive ist es bei solch kleinen Fallzahlen grundsätzlich kaum möglich, erklärende Faktoren zu identifizieren. Wir stellen somit fest, dass es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht zielführend ist, nach kategorialen Gemeinsamkeiten zu suchen (bspw. Migrationshintergrund, Nationalität). Vielmehr muss es um eine Analyse der Prozesse gehen, die sich mit der Frage befasst, unter welchen Bedingungen eine kleine Gruppe von Jugendlichen derartig gewalttätig wird.

Die Migrationsperspektive ist irreführend

Theoretische Überlegungen sowie die begrenzt vorliegende empirische Evidenz führen also zu dem Schluss, dass die Silvesterkrawalle kein Migrationsthema sind. Wir verweisen daher auf die Forschungen unserer KollegInnen am Deutschen Jugendinstitut (DJI) sowie am Institut für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Diese befassen sich – unabhängig vom Thema Zuwanderung, aber durchaus unter Berücksichtigung von Migrationserfahrungen und Integrationsprozessen – wissenschaftlich mit dem Phänomen von Devianz im Allgemeinen sowie spontanen Gewaltausbrüchen im Besonderen. Sie sind darum für Analysen der Mechanismen, die zu solchen Vorkommnissen führen, die naheliegenden Ansprechpartner.

Erste Erkenntnisse aus diesen Forschungsbereichen zeigen, dass zum einen die Sichtbarkeit eine große Rolle spielt: Gewaltakteure sind dann besonders motiviert, wenn sie mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen können. Zum anderen zeigen Untersuchungen, dass Drogenkonsum und eine damit verbundene Enthemmung ein wichtiger Faktor sind, die solche Taten begünstigen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich – und die Empirie bestätigt dies –, dass es in den verschiedensten gesellschaftlichen Kontexten zu Gewalt kommen kann: von Fußballspielen über politische Proteste bis hin zu Silvesterfeiern. Solche Gewaltsituationen sind geprägt von dem Denken: „Das ist unsere Straße, das ist unser Raum.” Es braucht dann eine Gruppe oder eine Person, die die Norm bricht und eine vermeintlich als „feindlich” verstandene Gruppe angreift. Dann wird, situativ, die Gewalt zur Norm. Wenn der Impuls dazukommt, „da haben andere nichts zu suchen”, und so genannte Bystander nicht eingreifen, sondern sogar applaudieren, dann kann die Situation immer stärker eskalieren. Diese sozialpsychologische Argumentation verdeutlicht, dass die Dynamiken eher von sozialpsychologischen Prozessen getrieben sind als von Prozessen, die sich aus den Dynamiken von Zuwanderung ergeben.

Im Hinblick auf die Demographie von gewalttätigen Gruppen zeigt die Gewaltforschung, dass wir es mit sehr unterschiedlichen Gruppen zu tun haben. Örtlich geschieht solche Gewalt häufig – aber nicht ausschließlich – in Stadtteilen, die abgehängt oder prekär sind. Das hat aber eher wenig mit Migration, sondern viel mehr mit Lebensverhältnissen und daraus entstehenden Identifikationen und Zugehörigkeitsgefühlen zu tun. Wenn die Lebensverhältnisse schlecht sind, dann ist Gewalt eine Gelegenheit, mal einflussreich, selbstbewusst und mächtig zu agieren.

Was wäre nötig, um die Debatte weiter zu versachlichen?

Da die Zahl der Täter so klein ist, können wir nicht davon ausgehen, es mit einem breiten gesellschaftlichen Phänomen zu tun zu haben. In quantitativen Befragungen werden diese Bevölkerungsgruppen nicht identifizierbar sein. Um die Dynamiken solcher spontanen Gewaltausbrüche zu verstehen, sind hier maximal qualitative, im Kontext der unmittelbaren Nachbarschaft eingebettete Studien sinnvoll. Um die Gewaltexzesse während der Silvesternacht in gesellschaftlicher Hinsicht zu begreifen, ist es ebenso nötig, auch die Gewaltakte an anderen Orten zu berücksichtigen sowie die Frage, wie eine bessere Gewaltprävention hätte greifen können. Dabei wäre ebenso zu prüfen, warum Gewaltbremsen nicht gegriffen haben. Hier wären Untersuchungen zielführend, die sich auf die genannten Bystandereffekte sowie auf die Rolle von Gewaltverherrlichungen in sozialen Medien fokussieren.

Um bessere Schlüsse aus den Zahlen der Polizei ziehen zu können, wäre es wichtig, ausführlichere Einsatzdaten auswerten zu können. Wenn die Zahl der Verhafteten als Stichprobe aus der Population der Gewalttäter verstanden wird, muss besser nachvollziehbar sein, wie sich diese Stichprobe ergeben hat. Dazu muss bekannt sein, wie oft die Polizei wegen Ausschreitungen informiert wurde oder diese beobachtet hat und an welchen Orten diese Ausschreitungen stattfanden. Ergänzend muss dokumentiert sein, wie viele Täter jeweils beteiligt waren, wie viele Polizeikräfte vor Ort waren und wie viele Personen jeweils verhaftet wurden.

Um Prävention und Intervention besser aufzustellen und Maßnahmen zu beschließen, wäre es ebenso empfehlenswert, stereotype und verzerrte Bilder von Rettungs- und Einsatzdiensten zu ermitteln sowie genau zu analysieren, wie die soziale Lage von jungen Menschen in unterschiedlichen Regionen in Deutschland ist. Denn in den Debatten wird auch ein vereinfachendes Bild über Jugend und Gewalt erkennbar. Wir möchten abschließend betonen, dass es nicht nur keine vereinfachte Erklärung entlang der Migrationsbiographie von Menschen, sondern auch keine einfachen Schlüsse im Hinblick auf das Gewaltverhalten von Jugendlichen geben darf. Es ist wichtig, ganz grundsätzlich zu betonen, dass die Prozesse, die Gewalt begünstigen oder entstehen lassen, vielschichtig sind. Sie lassen sich nicht auf einzelne Merkmale wie eine Migrationsgeschichte oder das Alter einer Person herunterbrechen.