Publikationstyp: Monografie
Das Dilemma der BrückenbauerInnen: LokalpolitikerInnen mit Migrationshintergrund
AutorInnen: Sinanoglu, Cihan Publikationsjahr: 2019
Die politische Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund rückt immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Auch wenn die Menschen mit Migrationshintergrund in den deutschen Parlamenten noch unterrepräsentiert sind, lässt sich auf allen politischen Ebenen ein Aufwärtstrend beobachten. Der demografische Wandel und die wachsende Zahl der Einbürgerungen werden die wahlpolitische Relevanz von Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen. Die vorliegende Studie zeigt, wie die politische Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund von Spannungsverhältnissen geprägt ist. Die Untersuchung beschäftigt sich mit Lokalpolitiker*innen mit Migrationshintergrund. Im Zentrum steht dabei, wie solche Abgeordneten ihre Rollen wahrnehmen, wen sie repräsentieren wollen und wie sie ihre Rolle praktisch ausüben. Die Arbeit fokussiert sich dabei auf zwei lokale Kontexte (Hannover und Frankfurt), wo Interaktionen zwischen Wählerschaft und Repräsentant*innen besonders unmittelbar sind. Die Besonderheit dieser Untersuchung ist die Verknüpfung und Kontrastierung des Selbstbildes der Abgeordneten und ihrer politischen Praxis. Die Analyse des politischen Alltages macht deutlich, dass sich die Abgeordneten mit Migrationshintergrund in unterschiedlichen Handlungsarenen bewegen, in denen unterschiedliche Erwartungshorizonte entstehen. Diese Erwartungen produzieren ein Hauptspannungsverhältnis: Einerseits für eine migrantische und ethnische Gruppe zu stehen, aber gleichzeitig „wählbar“ für eine breitere Wählerschicht und „vermittelbar“ innerhalb der Parteien zu sein. Infolge der Notwendigkeit, diese Erwartungen auszubalancieren, kristallisieren sich vier idealtypische Positionen heraus. Die Position der sozialen Aufsteiger*innen beruht auf einem der zentralen Narrative moderner und meritokratischer Gesellschaften. Das Narrativ lebt einerseits von der Annahme, dass Differenz und Ungleichheit in der Gesellschaft (Klasse, Ethnizität usw.) Hürden sind, die es Individuen erschweren, in die höheren Ränge aufzusteigen. Gleichzeitig versinnbildlicht es aber auch, dass Aufstieg für jene möglich ist, die sich genügend anstrengen. Charakteristisch für die Position des Vorbildes ist die Förderung und Motivation von jungen Menschen mit Migrationshintergrund. In der Position der migrantischen Lobbyisten nehmen sich die Abgeordneten als Anwälte und als Sprachrohr der Interessen von MigrantInnen war. Die Position des „normalen“ Lokalpolitikers relativiert demonstrativ ihren Migrationshintergrund, spielt ihn herunter und spricht den ethnischen Zuschreibungen ihre Absolutheit ab. Das Bemerkenswerte ist nun, dass sich alle Positionen bei fast allen Abgeordneten finden lassen. Die Studie zeigt, dass Abgeordnete mit Migrationshintergrund aufgrund der tiefgreifenden Verankerung ambivalenter Erwartungen im kommunalpolitischen Feld letztendlich die Figur des/der Brückenbauers/in einzunehmen haben, um darüber eigene Handlungsmöglichkeiten zu generieren. Das ist der Deal: Grundsätzlich kann niemand, der oder die realistische Karrierechancen haben will, sich verweigern, BrückenbauerIn zu sein. Wie dies dann aber geschieht, bleibt jedem Einzelnen überlassen und lässt Variationsmöglichkeiten offen. Der Figur der BrückenbauerIn liegt die Idee zugrunde, dass die skizzierten widersprüchlichen Verhaltenserwartungen durch Personen balanciert werden können. Dabei wird von Brückenbauer*innen erwartet, Verbindungen zwischen MigrantInnen und Mehrheitsgesellschaft, universalistischen Zielen und partikularistischen Interessen herzustellen. Die vier Positionen dienen dazu, zwischen den verschiedenen Anforderungen, die an die BrückenbauerInnen gerichtet werden, zu navigieren. Die wahrgenommenen Erwartungen der Repräsentation finden in dem Bild der BrückenbauerIn ihre Entsprechung und reflektieren in gewisser Weise die Bedingungen, unter denen Abgeordnete mit Migrationshintergrund agieren. Sie symbolisieren in diesem Sinne, dass Differenz besteht, aber nur dann politisch mobilisierbar ist, wenn sie in ihrer letzten Instanz überbrückt werden kann. Diese Figur der BrückenbauerIn ist dabei mehr als nur eine Position, die Abgeordnete mit Migrationshintergrund einnehmen können. Sie steckt vielmehr den Rahmen der Varianzen der vorgestellten Positionen ab. Die Abgeordneten gehen davon aus, dass ihr Migrationshintergrund von den Parteien und anderen städtischen AkteurInnen als Ressource und Potential wahrgenommen wird. In öffentlichen Debatten jedoch lassen sich Diskurse über den politischen Islam, mangelnde Integrationsbereitschaft von bestimmten Gruppen und vermeintlichen Parallelgesellschaften finden, die den Migrationshintergrund zum Problem erklären. Diese Ambivalenz lässt eine Nachfrage nach Brückenbauer*innen entstehen, die zwischen einer migrantischen und Mainstream orientierten Politik vermitteln können.