Mythen, Desinformation und verkürzte Darstellungen um Migration

mit Migrationsforscher Dr. Lukas Fuchs

Desinformationen, Mythen und verkürzte Darstellungen tauchen in Debatten um Migration immer häufiger auf. Ob instrumentell eingesetzt oder nicht, alle drei sind gefährlich, wenn es um ein hochkomplexes Gesellschaftsthema wie Migration geht, da sie ein verführerisches Gegenangebot zu Wahrheit und Vernunft – wichtigen Eckpfeilern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – anbieten.
Dr. Lukas Fuchs, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Migration

Was sind Desinformationen, Mythen und verkürzte Darstellungen? 

Verkürzte Darstellungen machen komplizierte und komplexe  Sachverhalte greifbar. Die Gefahr bei solchen Darstellungen ist, wie der Name vermuten lässt, dass zu einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Sachverhalte gefunden werden. Sie sind somit irreführend.  

Das Wort Mythos hat viele Bedeutungen in der Geschichte, Religion oder Mythologie und kann ein Ereignis hoher symbolischer Bedeutung, ein einfacher Irrglaube oder auch eine glatte Lüge sein. Vor allem ist ein Mythos eine Erzählung, deren Ursprung 1) unbekannt ist, 2) die scheinbar tatsächlichen Ereignisse wiedergibt und 3) die Bereitschaft zu „glauben“ (nicht nur religiöse) voraussetzt, da sie nicht überprüfbar sind.  

Dahingegen sind Desinformationen (alternative Fakten, Falschmeldungen) in ihrem Ursprung immer instrumentell, um andere zu beeinflussen. Sie werden gezielt eingesetzt, um Menschen zu beeindrucken, von etwas zu überzeugen oder in die Irre zu führen.

Mythos, Desinformation oder verkürzte Darstellung – was trifft auf diese Aussagen zu?

 

„Migration nach Deutschland
kostet den Staat Milliarden.“

Dr. Lukas Fuchs sagt dazu: Verkürzte Darstellung

„Wichtig zu beachten ist: Gesellschaftlicher Nutzen berechnet sich nicht so einfach in Haushaltsausgaben und -einnahmen. Die Arbeit und der wirtschaftliche Mehrwert, die vielen sozialen und kulturellen Beiträge, die Menschen mit Migrationsgeschichte leisten, sind so nicht zu berechnen. So funktioniert eine Gesellschaft, Migration hin oder her, schlichtweg nicht. 

Dennoch, ja, zunächst einmal kostet Migration, vor allem Fluchtmigration, Geld. Die Unterbringung, Sozialleistungen und Integrationsangebote sind kurzfristig teuer. Diese Investitionen sind notwendig. 

Im Bundeshaushalt 2022 waren bspw. rund 28,4 Milliarden Euro an flüchtlingsbezogenen Ausgaben veranschlagt, rund 6,2% der Gesamtausgaben, im Jahr 2023 waren 27,6 Milliarden Euro veranschlagt (vgl. bpb, 2024). Aber: der größte Teil der Ausgaben in den letzten Jahren entfiel auf die Bekämpfung von Fluchtursachen – also Entwicklungs- und Außenpolitik. Erst danach kamen Sozialtransferleistungen, die Entlastung von Kommunen und Integrationsfördernde Leistungen (vgl. BMF, 2024).“

Ökonom Marcel Fratzscher (DIW) wies die Methodik und das Ergebnis ebenfalls klar zurück: „Wenn man diese Betrachtung ernst nimmt, dann sind auch 70 Prozent der Deutschen ohne Migrationsgeschichte – nämlich alle Menschen mit mittleren und geringeren Einkommen – ein solches Verlustgeschäft.” 

 

„Deutschland nimmt die meisten Geflüchteten
aus Syrien und Afghanistan auf.“

Friedrich Merz, Parteichef der CDU, sagte in der Bundespressekonferenz am 27.08.2024:

„Es gibt kein zweites Land auf der Welt, das auch nur annähernd - proportional zu seiner Größe - eine solch große Zahl von Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan aufgenommen hat wie Deutschland.“

Dr. Lukas Fuchs sagt dazu: Desinformation

Nein, die absolut meisten Menschen aus Syrien und Afghanistan, nehmen die Nachbarländer auf: die Türkei (3.214.780) und der Libanon (784.884) bei Syrern (DE: 772.000) und Iran (3.752.317) und Pakistan (1.987.717) bei Afghanen (DE: 255.077). Deutschland ist global zwar bei beiden Ländern auf Platz 3, aber eben hinter einem Land wie dem Libanon, das mit gut 5 Millionen Einwohnern nicht nur um ein Vielfaches kleiner als Deutschland ist, sondern auch sehr viel weniger wohlhabend.  (Alle Zahlen: https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download.) 

Da auch der Iran nur unwesentlich mehr Einwohner hat als Deutschland, ist die Behauptung, Deutschland nehme relativ zur Bevölkerung gesehen mehr afghanische Geflüchtete auf als alle anderen Länder, nicht haltbar. 

Selbst innerhalb der EU ist Deutschland seit 2016 nicht mehr das Land gewesen, in dem proportional zu seiner Größe die meisten Asylanträge gestellt werden.“ (Veranschaulichung: https://anonyms.shinyapps.io/asylum/)

 

„Deutschlands Sozialsystem bietet zu viele Pull-Faktoren.“

Dr. Lukas Fuchs sagt: Zwischen Mythos und Desinformation

1. Was hat es mit Pull-Faktoren auf sich?

„Migrationsmodelle, die auf Push-und-Pull-Faktoren fußen, kommen ursprünglich aus der Wirtschaftsforschung und sollen beschreiben, warum Menschen sich bessere Chancen in bestimmten Ländern als in anderen Ländern ausrechnen. In der Forschung heute ist man sich einig, dass dieser Ansatz zu kurz gedacht ist, um die Komplexität der Migrationsbewegungen zu verstehen. Der Glaube, man könne mit einem einzigen Faktor Migrationsbewegungen vorhersagen, ist also eher ein Mythos.“  ​​

2. Die Frage nach Sozialleistungen: 

„Migrationsbestrebungen formieren sich vornehmlich in Herkunftsländern, mindestens aber gleichwertig in Herkunfts- und Zielland. Würden wir die Sozialleistungen in Bereichen absenken, die unserer Verfassung nach nicht als menschenwürdig gelten, oder sie abschaffen, dann hätte das vermutlich einen Effekt. Das ist dann aber aus meiner, und aus rechtlicher Sicht vermutlich auch, nicht legitim. Die Idee, das verfassungsrechtlich sauber umzusetzen, ist ein Mythos.

3. Fazit: 

„Die Behauptung, dass Migrant*innen generell ausschließlich nach Deutschland kommen, um hier im Sozialsystem alimentiert zu werden, ist als Desinformation zu bewerten. Gerade bei Fluchtmigration spielen vor allem Sicherheit und politisches Klima im Herkunftsland und vor allem soziale Netzwerke sowie wirtschaftliche Perspektiven im Zielland eine Rolle.“ 

 

„Die Bezahlkarte für Geflüchtete ist nötig, damit Sozialleistungen nicht ins Ausland gehen.“

Dr. Lukas Fuchs sagt dazu: Allgemein problematische Darstellung

„Die Bezahlkarte ist eine diskriminierende Maßnahme und daher aus ethischer Sicht schon sehr fragwürdig. Außerdem ist es wissenschaftlich wenig eindeutig, welche Auswirkungen die Bezahlkarte haben wird.  

Geflüchtete senden im Vergleich zu anderen Migranten seltener und weniger Bargeld ins Ausland, jene, die unter dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungen beziehen wohl besonders selten (DIW, 2024). Da die Grundsicherung, wie der Name sagt, nötig ist, um in Deutschland zu überleben, ist es unrealistisch, dass größere Summen davon ins Ausland gehen.  

Der Verwaltungsaufwand wird noch nicht abzusehende direkte und indirekte Kosten verursachen (Brücker, 2024). Indirekt, da die Bezahlkarte absehbar negative Auswirkungen auf die Integration und soziokulturelle Teilhabe der Geflüchteten und somit langfristig negative Folgen für die Gesellschaft hat. Denn geringere Integrationschancen führen absehbar zu höheren Kosten für den Sozialstaat.  

Auch direkte Kosten sind zu erwarten. Der Verwaltungs- und Personalaufwand für die öffentlichen Verwaltungen ist nicht seriös berechnet worden. Auch mindert die Bezahlkarte voraussichtlich die Effektivität der gezahlten Leistungen und hat somit insgesamt negative Auswirkungen auf den Wohlstand.“

Das DeZIM-Institut und die DeZIM-Forschungsgemeinschaft befassen sich intensiv mit Migrationsbewegungen sowie deren Ursprung und Auswirkungen. In der Debatte zur Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete nehmen die Expert*innen aus wissenschaftlicher Sicht Stellung: Zur Übersichtsseite

Dr. Lukas Fuchs

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Migration.

Seine Forschungsschwerpunkte sind: Globale Flüchtlingsstudien, Migration und mentale Gesundheit, Zugehörigkeitsgefühle und Boundary-making, Rückkehrmigration, Werte und kulturelle Vielfalt.