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Falscher Verdacht? Die Kriminalstatistik der Polizei lässt viele Fehlschlüsse zu
Die PKS liefert kein verlässliches Bild zur inneren Sicherheit oder zum Zusammenhang von Migration und Kriminalität. Das zeigt auch ein Vergleich mit Daten der Staatsanwaltschaften. Ein Kommentar von Dr. Niklas Harder.
Die jährlich veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird regelmäßig als Indikator für Kriminalität und Sicherheit in Deutschland herangezogen. Besonders Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich häufiger von Kriminalität bedroht und werden in einigen Deliktbereichen eher Opfer von Kriminalität als Menschen ohne Migrationshintergrund (siehe DeZIM Data.insight 16 und SKiD 2020 ) Darum würden auch Migrant*innen und Integrationsforscher*innen von guten kriminologischen Daten profitieren. Die Daten von früheren und der neuen PKS sind bezüglich der Sicherheitslage in Deutschland aufgrund verschiedener Unzulänglichkeiten jedoch nicht aufschlussreich und werden der Relevanz des Themas nicht gerecht.
Eine polizeiliche Statistik kann nur das Hellfeld, also polizeibekannte Fälle, abbilden und hängt deswegen von Faktoren wie der polizeilichen Kontrollintensivität und dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung ab. Dies liegt in der Natur einer polizeilichen Statistik und lässt sich kaum ändern. Zum einen wird dadurch für manche Straftaten nur ein Bruchteil der tatsächlichen Fälle erfasst. Zum anderen können sich die in der PKS registrierten Verdachtsfälle als unbegründet herausstellen.
Wie groß dieses Problem ist, zeigt ein grober Vergleich der PKS 2023 mit der Statistik der Staatsanwaltschaften 2023 (siehe Abbildung 1 sowie hier und hier). Eine direkte Zuordnung der Fälle aus der PKS zu den Fällen aus dem Statistischen Bericht der Staatsanwaltschaften ist nicht möglich. Auch ist aufgrund unterschiedlich langer Bearbeitungsdauern nur ein Teil der Fälle aus einem PKS-Jahrgang im selben Jahrgang der Statistik der Staatsanwaltschaften erfasst. Da die Gesamtzahl der PKS-Fälle von Jahr zu Jahr aber nur leicht schwankt und dies auch auf die Zahlen der Erledigungsarten in der Statistik der Staatsanwaltschaften zutrifft (siehe Abbildung 3), ist ein Vergleich der Größenordnungen trotzdem aufschlussreich.
Die 5,5 Millionen von den Staatsanwaltschaften erledigten Verfahren entsprechen in etwa der Zahl der Fälle aus der PKS. Im Vergleich zu fast sechs Millionen Fällen in der PKS wurden 2023 aber nur etwa 350.000 Fälle einem Gericht vorgelegt beziehungsweise in knapp 540.000 Verfahren direkt ein Strafbefehl ausgesprochen. Zusammen mit den Einstellungen mit Auflagen wurden 2023 also nur gut eine Million Fälle direkt weiterverfolgt.
Im Vergleich zur PKS besteht hier eine Diskrepanz von mehr als fünf Millionen Fällen. Dass diese Fälle von den Staatsanwaltschaften nicht weiterverfolgt werden, kann unter anderem daran liegen, dass die Anklagebehörden keinen Anhaltspunkt für eine Straftat erkennen, keine Täter*innen ermitteln können oder mehrere Fälle zusammenlegen. Leider kann anhand der vorliegenden Daten nicht geklärt werden, welcher PKS-Fall aus welchem Grund nicht weiterverfolgt wird. Es ist daher nicht auszuschließen, dass hinter einem Großteil der in der PKS gezählten Verdachtsfälle gar keine Straftaten stehen.
Die Zahlen aus dem Jahr 2023 sind kein Einzelfall. Mit kleinen Schwankungen gelten diese Größenordnungen für alle Jahre von 2019 bis 2023 (siehe Abbildung 3). 2023 haben die Staatsanwaltschaften mehr als die Hälfte der erledigten Fälle ohne Auflagen oder gemäß §170 StPO eingestellt (siehe Abbildung 2).
Die meisten Fälle aus der PKS werden also strafrechtlich nicht weiterverfolgt. Es ist außerdem unklar, ob bestimmte Deliktgruppen oder Tatverdächtige eher verfolgt werden als andere. Wie sehr die PKS den Blick auf das Hellfeld der Kriminalität in Deutschland verzerrt, kann anhand der vorliegenden Daten daher nicht nachvollzogen werden. Die Schwächen der PKS und die fehlende Verknüpfung mit den Statistiken von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten führen dazu, dass es in Deutschland keine geeignete Grundlage für seriöse, datenbasierte kriminologische Forschung gibt.
Wichtige Fragen, etwa wie effektiv unterschiedliche Ansätze in der Polizeiarbeit sind, welche Orte besonders kriminalitätsbelastet sind oder wer in Deutschland kriminell wird, lassen sich mit den vorhandenen Daten nicht verlässlich untersuchen.
Öffentliche Spekulationen zu kriminologischen Fragen zeigen aber, dass in der Gesellschaft ein großer Informationsbedarf besteht. Dies gilt insbesondere für die Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Kriminalität. Diesen auf Grundlage der PKS herzustellen, ist angesichts der eingeschränkten Datenlage bestenfalls spekulativ und schlimmstenfalls bewusst irreführend. In Anbetracht der vielen möglichen Fehlschlüsse und der begrenzten Aussagekraft der PKS sollten die Bundesregierung und das Bundeskriminalamt daher die gesondert hervorgehobene Präsentation der PKS-Daten hinterfragen.
Als Integrationsforscher*innen ist uns die Relevanz kriminologischer Themen in der Integrationsforschung bewusst. Leichtere Zugänge zu bereits vorhandenen kriminologischen Daten und eine bessere Verknüpfung von Datensätzen würden eine Grundlage für eine fundiertere Forschung legen. Polizeibehörden anderer Länder zeigen zudem, wie sich die vorhandenen Daten sinnvoll ergänzen lassen.
Bereits vor fünf Jahren hat der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten dieses Problem umfassend aufgearbeitet und Vorschläge gemacht, wie sich die Situation verbessern lässt, zum Beispiel durch eine Verlaufsstatistik, in der die Statistiken von Polizei, Staatsanwaltschaften und Strafgerichten auf Fall- und Personenebene verknüpft werden (siehe RatSWD (2020)). Diese Verknüpfung sollte insbesondere für Sonderstatistiken, wie die Statistik zu politisch motivierter Kriminalität (PMK), sichergestellt werden.
Die nächste Bundesregierung sollte die Empfehlungen des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) ernst nehmen. Außerdem sollten die PKS-Mikrodaten für externe Forschung zugänglich sein, so wie es etwa beim Kraftfahrtbundesamt für die Daten zu Verkehrsvergehen bereits der Fall ist. Es bedarf auch einer Einsatzstatistik der Polizei, die zeigt, wann, wo, wie viele Beamt*innen im Einsatz waren und welche Verdachtsfälle jeweils aufgenommen wurden. Vorbildcharakter haben hier beispielsweise die Statistiken der New Yorker Polizei. Dann könnten die Daten der Kriminalstatistik einen wertvollen Beitrag sowohl für die Forschung als auch die Gesellschaft leisten.
Für Presseanfragen wenden Sie sich bitte an: presse(at)dezim-institut.de
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