Langes Warten oder gar kein Termin – der Globale Süden wird im deutschen Visasystem deutlich benachteiligt

Wie gerecht sind die Chancen auf Termine in deutschen Auslandsvertretungen im weltweiten Vergleich? Eine neue Analyse zeigt, dass Menschen aus ärmeren Ländern deutlich länger auf Visatermine warten müssen als Antragsteller*innen aus wohlhabenderen Staaten. Dazu wurden mehr als 16.000 Terminabfragen ausgewertet.

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Bei den Wartezeiten und Wahrscheinlichkeiten, einen Visatermin in einer deutschen Botschaft oder in einem Konsulat zu bekommen, gibt es große globale Unterschiede. Strukturelle Faktoren, etwa die Wirtschaftskraft eines Landes, stehen in deutlichem Zusammenhang mit den jeweiligen Verfügbarkeiten. Je ärmer das Land, desto länger müssen Antragsteller*innen auf einen Termin warten – und desto geringer ist die Chance, überhaupt einen zu erhalten. 

Das ist das Ergebnis des bislang umfassendsten Vergleichs von Terminverfügbarkeiten und Wartezeiten, durchgeführt von Forscher*innen des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), der Europa-Universität Flensburg und des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Ihnen zufolge ergeben sich für Antragsteller*innen aus vielen Ländern des Globalen Südens somit „Zeitstrafen“, die ihre Chancen für Arbeitsmigration, Studienaufenthalte, Familienbesuche oder Urlaubsreisen beeinflussen können. Die Daten zeigen klar: Grenzen existieren nicht nur rund um Territorien, sondern auch auf zeitlicher Ebene.

Für die Analyse wurden 16.182 computergestützte Terminabfragen bei 130 deutschen Auslandsvertretungen in 109 Ländern ausgewertet. Die Abfragen wurden zwischen November 2023 und September 2024 durchgeführt. Im Anschluss wurden die Daten mit Faktoren wie dem jeweiligen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, Handelsbeziehungen zu Deutschland, politischer Stabilität und Verbreitung der Internetnutzung verknüpft.

ZENTRALE ERGEBNISSE

  • In 44,1 % aller Fälle war gar kein Termin verfügbar.
  • Starke Unterschiede bei den Wartezeiten: Die Zeit zwischen Buchung und Termin lag zwischen 0 Tagen und 98 Tagen, Letzteres etwa bei einzelnen Terminen in Angola oder im Oman.
  • Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt steht durchschnittlich in einem deutlichen Zusammenhang mit Terminchancen und Wartezeiten. Eine geringere Wirtschaftskraft bedeutet geringere Terminchancen und längeres Warten zwischen erfolgreicher Buchung und Termin.
  • Die Chancen, einen Termin zu bekommen, reichten von 0,7 % (Uganda) oder 1,3 % (Pakistan) bis zu 100 % (z.B. Tunesien, Venezuela).
  • Längste durchschnittliche Wartezeiten in Afrika: Besonders die Vertretungen in Ouagadougou (Burkina Faso), in Antananarivo (Madagaskar) und in Kinshasa (DR Kongo) wiesen im Schnitt lange Wartezeiten bis zum nächsten buchbaren Termin auf. Nach Ländern lagen Burkina Faso (75,7 Tage), Madagaskar (71,3 Tage), aber auch Zypern (60,7 Tage) vorn. Letzteres könnte im Zusammenhang mit Anträgen von Drittstaatler*innen stehen, da sich Zypern an einer hochfrequentierten Flüchtlingsroute im Mittelmeer befindet. In 17 Ländern betrugen die Wartezeiten mehr als einen Monat. Lange Wartezeiten bedeuten auch durchschnittlich geringere Chancen, einen Termin zu bekommen.
  • Kürzeste durchschnittliche Wartezeiten in Europa, Lateinamerika, Karibik und Ozeanien: In Vertretungen in Singapur (2 Tage) oder Kuba (2,7 Tage) waren die Wartezeiten auf einen Termin besonders gering.
  • Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland spielen eine Rolle. Länder, die enge Handelsbeziehungen pflegen, verzeichnen kürzere Wartezeiten.
  • Sprachliche Gemeinsamkeiten haben einen starken Einfluss: Je mehr Menschen eines Landes sich mit der deutschen Bevölkerung verständigen können, desto größer ist die Chance, in Auslandsvertretungen dieses Landes einen freien Visatermin zu finden.
  • Unterschiede nach Visa-Typen: Termine für Kurzzeit-Visa weisen längere Wartezeiten auf als solche für Langzeit-Visa. Grund dafür könnte sein, dass Tourismus-Visa stärker nachgefragt sind als Visa für Einwanderung.
  • Einfluss der Wochentage: Die Wartezeiten für verfügbare Termine sind am kürzesten, wenn die Abfrage an einem Montag ist. Allerdings sind montags auch die Chancen am geringsten, einen Termin buchen zu können.
  • Unterschiede zwischen Botschaften und Konsulaten: Die Chancen auf einen Termin sind in Botschaften größer. Die durchschnittlichen Wartezeiten bei verfügbaren Terminen sind in Konsulaten jedoch kürzer.

Die Forscher*innen werten diese Muster als Hinweis darauf, dass die Ressourcen deutscher Auslandsvertretungen ungleich verteilt und politisch priorisiert sind – und dass sich dadurch globale wirtschaftliche Ungleichheiten fortsetzen. Offizielle Daten zur Personalstärke oder zum Budget der einzelnen Botschaften sowie zu realen Terminanfragen standen den Forscher*innen nicht zur Verfügung.

Prof. Dr. Emanuel Deutschmann, Autor der Studie und Juniorprofessor für Soziologische Theorie an der Europa-Universität Flensburg: „Die extrem ungleichen Chancen auf einen zeitnahen Visatermin sind ungerecht, führen zu Frust und werden von den Betroffenen zu Recht als diskriminierend empfunden. Auch wenn unklar bleibt, ob die längeren Wartezeiten im Globalen Süden eine Nebenfolge von Unterbesetzung und Überforderung oder das Ergebnis einer gezielten Abschreckungs- und Ausgrenzungspolitik sind, die Folgen sind eindeutig: Deutschlands Reputation als Einwanderungsland und Tourismusdestination leidet, dringend benötigte Fachkräfte werden abgeschreckt, Austausch und Kooperation eingeschränkt und globale Ungleichheiten letztlich reproduziert und verstärkt.“

Dr. Niklas Harder, Co-Autor der Studie und Co-Leiter der Abteilung Integration am DeZIM: „Wartezeiten auf Termine an deutschen Auslandsvertretungen sind die erste Hürde auf dem Weg nach Deutschland. Unsere Untersuchung zeigt, dass das Herkunftsland entscheidet, wie hoch diese Hürde ist. Gute Migrationspolitik braucht Transparenz und gleiche Chancen für alle motivierten Einwanderer*innen, egal aus welchem Land. Hier bietet sich eine öffentlich zugängliche Plattform mit den aktuellen Wartezeiten an, etwa als Teil des Auslandsportals des Auswärtigen Amtes. Transparenz ist auch die Grundlage dafür, die Frage zu diskutieren, wie die unterschiedlichen Wartezeiten entstehen.“  

METHODIK
Mittels eines Python-Skripts wurden zwischen November 2023 und September 2024 Daten zu 16.182 Terminabfragen in 130 deutschen Botschaften und Konsulaten erhoben. Somit wurden 86,5 % aller Länder mit deutschen Auslandsvertretungen abgedeckt. Alle sechs Tage wurde erfasst, ob es Termine gab und wie lange auf den nächstmöglichen Termin gewartet werden müsste. Mögliche Wartezeiten bis zur erfolgreichen Ausstellung eines Visums nach den Terminen konnten nicht erfasst werden. Abgefragt wurden Termine für alle an der jeweiligen Auslandsvertretung verfügbaren Visa-Arten (u. a. Schengen-, Arbeits-, Familiennachzugs-, Studierendenvisa). Auslandsvertretungen, die keine freie Terminsuche anbieten, sondern auf Anfrage Termine vorschlagen, wurden nicht einbezogen.

Das Paper „A Time Penalty for the Global South? Inequalities in Visa Appointment Wait Times at German Embassies and Consulates Worldwide“ wurde soeben im Journal „Political Geography“ veröffentlicht.

Pressekontakt
Angie Pohlers
Pressereferentin
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