Postmigrantische Wissensproduktion

Postmigrantische Wissensproduktion betrifft die Art und Weise, wie neues Wissen in einer Gesellschaft produziert wird, die von einhergehender
Migration und ihr nachgelagerten Neuordnungen geprägt ist.

Das DeZIM wurde seinerzeit ins Leben gerufen, um zu einer Versachlichung der Debatten um Migration und Integration beizutragen. Es sollte ein „Hub“ für die bis dahin sehr disperse Migrationsforschung in Deutschland entstehen, mit besonderer Nähe zur Praxis und evidenzbasierter Beratung des zivilgesellschaftlichen und politischen Raums. Ausdrücklich sollten hier unterschiedliche, sogar scheinbar widersprüchliche Positionen, Zugänge, Methoden und Theorien zusammenkommen, um durch gemeinsames multimethodisches Arbeiten einen Ort für konstruktiven Streit zu ermöglichen, der mit einem ebenso produktiven Einbezug zentraler Stakeholder neue Wege der Forschung und neue Antworten auf dringende gesellschaftliche Fragen erschließt. Unser Ziel war es, einen Forschungsraum zu schaffen, der sich auf der Höhe des akademischen State of the Art befindet und zugleich die zuweilen engen Logiken und Perspektiven der universitären Forschung überwindet. Durch eine explizitere Ausrichtung an sich verändernde gesellschaftliche Bedarfe und Rahmenbedingungen sollen gesellschaftlich relevante Themen schneller erkannt, innovative Tools zur Beantwortung drängender Fragen entwickelt und in die universitäre Forschung als neue Impulse zurückgegeben werden. 

Wir sind stolz, dass wir mit unserem Institut auf diesem Weg ein großes Stück vorangekommen sind. Detailliertere Schritte und Aspekte der vielen einzelnen Projekte der verschiedenen Abteilungen und Einheiten sind den vergangenen Jahresberichten – und auch in diesem – dokumentiert. Wir möchten an dieser Stelle reflektieren, welches charakteristische Profil, welche „signature", die Forschung unseres Instituts entwickelt hat. Knapp zusammengefasst könnte man sie als „postmigrantische Wissensproduktion“ bezeichnen. 

Der ursprünglich aus der Kulturszene kommende, mittlerweile aber auch in den Sozialwissenschaften etablierte Begriff „postmigrantisch“ hebt hervor, dass vergangene und aktuelle Zuwanderungen die gesellschaftliche Realität nachhaltig verändern und prägen. Das macht sich schon daran fest, dass Deutschland im Jahr 2023 eine Bevölkerung mit Migrationsgeschichte von knapp unter 30 Prozent aufwies, bei den Kindern unter fünf Jahren waren es bereits 43 Prozent. Eingewanderte und ihre Nachkommen sind Nachbar*innen, Kolleg*innen, Mitschüler*innen, Freund*innen, Teamkolleg*innen, Lebenspartner*innen und bilden auch mit Menschen, die in ihrer Familie keine jünger zurückliegenden Migrationserfahrungen haben, vielfache postmigrantische Konstellationen. 

Es geht nicht mehr darum, ob das Land sich als Einwanderungsland beschreibt, sondern wie und von wem dieses Einwanderungsland verändert und gestaltet werden kann, darf und wird. Dabei unterliegt das, was nach der Einwanderung ausgehandelt wird, teilweise konfliktvollen Prozessen. Die Aushandlung der Migrationsfrage erfolgt zwischen zwei gegensätzlichen Polen: zwischen jener Seite, die die politische Anerkennung und die Rechte von Eingewanderten und ihren Nachkommen ausweiten bzw. gleichstellen möchte, und jener, die dies verhindern bzw. in „prämigrantische“ Zeiten zurückdrehen möchte. Das führt zu neuen Allianzen und Antagonismen und zu einer Polarisierung der Gesellschaft rund um die Migrationsfrage.

Durch die Ausrichtung an sich verändernde gesellschaftliche Bedarfe sollen relevante Themen schneller erkannt, innovative Tools zur Beantwortung drängender Fragen entwickelt und als neue Impulse in die Forschung zurückgegeben werden.

Wissensproduktion meint ganz allgemein den Prozess, durch den Wissen geschaffen, erworben, organisiert und verbreitet wird. Sie umfasst die Aktivitäten, die dazu beitragen, Informationen zu generieren, zu analysieren und zu interpretieren, um neues Wissen zu entwickeln oder bestehendes Wissen zu erweitern. In der Forschung umfasst die Wissensproduktion zum Beispiel das Design von Studien, das Sammeln und Analysieren von Daten, das Formulieren von theoretischen Argumenten und Hypothesen sowie Methoden ihrer Testung. Die Art und Weise, wie Wissen produziert wird, ist unter anderem von kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren abhängig. Wissensproduktion ist somit ein dynamischer Prozess, der eng mit den gesellschaftlichen Bedingungen und den verfügbaren Ressourcen verbunden, wenngleich nicht vollkommen durch sie bestimmt und somit nicht beliebig ist. 

Postmigrantische Wissensproduktion 

Postmigrantische Wissensproduktion betrifft damit die Art und Weise, wie neues Wissen in einer Gesellschaft produziert wird, die von einhergehender Migration und ihr nachgelagerten Neuordnungen geprägt ist und in deren Analyse etablierte Fragen, Kategoriensysteme und Herangehensweisen nicht mehr ausreichend greifen. Es geht dabei nicht um eine radikale Ersetzung vorhandener und durchaus bewährter wissenschaftlicher Praktiken. Vielmehr geht es um deren kritische Reflexion, um dringend notwendige Anpassungen und konsequente Weiterentwicklungen, um neue Akzentuierungen, um die Berücksichtigung und Integration bislang widersprüchlich erscheinender Ansätze und um die Entwicklung innovativer Impulse, die den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den veränderten Fragen angemessen Rechnung tragen. 

Wichtige Aspekte und konkrete Beispiele einer postmigrantischen Wissensproduktion lassen sich an drei generellen Schwerpunktaufgaben unserer Forschung festmachen, die sich quer durch alle Abteilungen und Forschungseinheiten über sehr unterschiedliche Projekte hinweg identifizieren lassen.

Wissensmobilisierung und Transfer

Die Verbindung der DeZIM-Forschung zur restlichen Scientific Community, zu Politik und Verwaltung und vor allem auch zur postmigrantischen Zivilgesellschaft sind ein konstitutives Element des Instituts. Sie wird dabei jeweils explizit in beide Richtungen verstanden: Einerseits geht es um einen zielgruppenspezifischen und qualitätsgesicherten Transfer. Zentrale Forschungsergebnisse der letzten fünf Jahre finden sich in internationalen Journals, sind aber auch unmittelbar in die praktische Arbeit einer breiten Gruppe von Stakeholdern aus Kommunal-, Landes- und Bundespolitik/-verwaltung sowie Fachpraxis und Zivilgesellschaft eingeflossen. 

Darüber hinaus liegt eine spezifische Stärke unserer Forschung darin, Wissen und Wissensmöglichkeiten mit zentralen Stakeholdern der postmigrantischen Gesellschaft durch partizipative Verfahren und Konsultationsprozesse zu mobilisieren – mit dem Ziel, die Forschung selbst in ihrer Relevanz und Qualität, vor allem im sogenannten Wert- bzw. Entdeckungszusammenhang zu verbessern. Eine besondere Berücksichtigung finden hier marginalisierte Gruppen und Akteure. Dies geschieht weniger aus altruistischen Motiven als vielmehr in dem Wissen, dass die Berücksichtigung und Anerkennung wichtiger marginalisierter Wissensbestände, die Reflexion einer Begriffs- und Perspektivenkritik, die Erarbeitung innovativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie die Entwicklung von (partizipativen) Verwertungsstrategien die Forschungsperspektiven schärfen und breiter aufstellen. Der inhaltliche Austausch reicht dabei von der Information über die Konsultation bis zur Forschungskooperation im näheren Sinne. Gleichzeitig gilt es, dabei unverzichtbare Standards des wissenschaftlichen Vorgehens im Begründungszusammenhang, insbesondere die prinzipielle Ergebnisoffenheit empirischer Forschung, jederzeit im Auge zu behalten und sicherzustellen. 

Monitoring und Berichterstattung

Die Abbildung gesellschaftlicher Strukturen, Lagen und Stimmungen durch geeignete Indikatoren und ihre Beobachtung über die Zeit gehören ebenfalls zu den zentralen Aufgaben des DeZIM. Die Ergebnisse sind für alle unterschiedlichen Zielgruppen relevant und informieren die politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten. Monitoring und Berichterstattung finden an vielen Stellen und Projekten im DeZIM statt, in einigen stehen sie explizit im Vordergrund. Die veränderten postmigrantischen Realitäten erfordern dabei Weiterentwicklungen und Korrekturen gängiger Praktiken, zuweilen gar völlig neue Wege und Infrastrukturen.

Ein besonders sichtbares Beispiel ist die Unterstützung für die Integrationsberichterstattung der Bundesregierung: Wir freuen uns sehr, dass wir im vergangenen Jahr damit betraut wurden, die Integrationsberichte 2024 und 2026 für die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration zu erarbeiten, nachdem wir schon im Jahr 2021 einen „Ersten Bericht zum indikatorengestützten Integrationsmonitoring“ vorlegen konnten. Eine zentrale Herausforderung ist es dabei, ein zeitgenössisches Verständnis von Integration umzusetzen. Die Relevanz der postmigrantischen Perspektive zeigt sich in vielen kleinteiligen Fragen und Entscheidungen. Nur ein Beispiel: Jahrzehntelang war es – und stellenweise ist es noch – in der empirischen Forschung durchaus üblich, die soziale Integration von migrantischen Jugendlichen über den Anteil nichtmigrantischer Freunde zu operationalisieren. Wenn in einer Großstadt wie Frankfurt am Main jedoch rund 70 Prozent der Jugendlichen migrantisch sind und die Freundinnen Aisha und Noura Zahnmedizin und Germanistik studieren, misst dieses Item das Konzept offensichtlich nicht angemessen. Übergeordnet geht es vor allem darum, konsequenter umzusetzen, dass Integration nicht nur als einseitige Anpassung von Menschen mit direkter oder familiärer Migrationserfahrung an einen wie immer gearteten Standard oder Mittelwert zu verstehen ist. Vielmehr handelt es sich um einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, in dem es auch um die Integrationsleistung gesellschaftlicher Institutionen und auch um die Integration der nichtmigrantischen Bevölkerung in eine plurale Gesellschaftsstruktur geht, mit der viele hadern. Dies gilt es – gemeinsam mit dem politischen Raum und zivilgesellschaftlichen Akteuren – in reliable und valide messbare Indikatoren umzusetzen.

Der Diskriminierungs- und Rassismusmonitor ist ein völlig neuer Beitrag zur Sozialberichterstattung und fragt, in welchem Ausmaß, in welcher Form, aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen Rassismus Teil der Realität der postmigrantischen Gesellschaft ist.

Ein zweites sehr sichtbares Beispiel ist der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), den wir hier am Institut seit 2020 aufgebaut haben. Der NaDiRa ist in seiner Anlage ein völlig neuartiger Beitrag zur Sozialberichterstattung und fragt allgemein, in welchem Ausmaß, in welcher Form, aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen Rassismus ein Teil der Realität der postmigrantischen Gesellschaft ist. Er stellt nicht zuletzt den Versuch dar, die bislang überwiegend theoretische und qualitative kritische Rassismusforschung in Deutschland mit der quantitativen empirisch-analytischen Ungleichheitsforschung zu verbinden.

Ein wichtiger Baustein ist dabei das NaDiRa.panel, dessen erste Daten im letzten Jahr präsentiert wurden. Einzelfragen und -aufgaben erfordern auch hier viele neue Entwicklungen und Lösungen. Darunter fallen die angemessene Terminologie, Abgrenzung und Operationalisierung einzelner rassifizierter Gruppen, deren repräsentative und ausreichende Erfassung im Survey, um statistisch gesicherte Aussagen treffen und die verschiedenen Teildimensionen eines theoretisch-informierten Rassismusbegriffs entsprechend messbar machen zu können. 

Nachhaltige Dateninfrastruktur und Methodenkompetenz 

In den ersten fünf Jahren konnten am DeZIM schrittweise wichtige Strukturen geschaffen werden, die Bedürfnisse an adäquatere empirische Analysen der postmigrantischen Gesellschaft erfüllen. Für die zentralen Fragen geht es einerseits um geeignete Datengrundlagen, andererseits um methodische Kompetenzen. 

Mit dem oben schon angesprochenen NaDiRa.panel und dem DeZIM.panel wurden zwei großangelegte, in diesem Zuschnitt neuartige quantitative Längsschnitterhebungen aufs Gleis gesetzt, die eine kurzwellige Dauerbeobachtung von Einstellungen, Stimmungen und Ungleichheiten erlauben, wobei Menschen mit direkter oder familiärer Einwanderungsgeschichte überproportional in der Stichprobe vertreten sind. Darüber hinaus konnte ein eigenes Forschungsdatenzentrum (FDZ) aufgebaut werden, das zur Datenarchivierung von quantitativen Daten zu den Themen Migration, Integration, Diskriminierung und Rassismus der Forschung zur Verfügung steht. Entsprechende Lösungen für die Archivierung qualitativer Daten wurden in Kooperation mit dem Bremer FDZ Qualiservice entwickelt. Eine besondere Sorgfalt liegt dabei auf einer Sensibilität für den Datenschutz und die Wahrung von Persönlichkeitsrechten, da viele Zielgruppen zahlenmäßig klein und vulnerabel sind. Das DeZIM setzt sich mit seinem FDZ dafür ein, dass die Ressource Daten verantwortungsvoll und effektiv genutzt wird, wobei die allgemeinen FAIR-Prinzipien (Findability, Accessibility, Interoperability, Reusability) leitend sind. Die mit der postmigrantischen Gesellschaft verbundenen Forschungsfragen verlangen wie kaum andere eine Verknüpfung sehr unterschiedlicher Forschungsmethoden, Datenquellen und -typen nach kreativen und neuen Lösungen. Diese Herausforderung prägt viele Projekte mit diesem notwendigen Mix aus Methoden, Theorien, Positionen und Zugängen. 

Dies setzt ein breites Spektrum von methodischen Kompetenzen und deren Sicherstellung und Weiterentwicklung voraus. Das Institut nutzt hierfür vielfältige Instrumente, wie die 2023 etablierte Summer School, die das wissenschaftliche Personal fortwährend schult und aktuelle methodische (Weiter-)Entwicklungen in das Themenfeld integriert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Angebot der Vermittlung methodischer Kompetenzen für wissenschaftsexterne Akteur*innen, beispielsweise die vielen Communitys, die selbst eigene Studien durchführen. Diese Vermittlungsarbeit schließt unmittelbar an den oben angesprochenen Schwerpunkt des Transfers und der Wissensmobilisierung an.