Book Discussion mit Steven Vertovec 

„Superdiversität. Migration und soziale Komplexität“

19. September 2024, 18:30 Uhr – 20: 00 Uhr 

DeZIM_Saal, 3 OG, Mauerstr. 76, 10117 Berlin 

Am 12. Oktober 2024 veranstaltete der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) eine Book Discussion mit Prof. Dr. Steven Vertovec, um das in diesem Jahr auf Deutsch erschienene Buch „Superdiversität. Migration und soziale Komplexität“ zu besprechen. Darin reflektiert Vertovec sein vor fast zwei Jahrzehnten entwickeltes Konzept der »Superdiversität« im Spiegel seiner bisherigen wissenschaftlichen und politischen Verwendung und analysiert die zunehmenden Diversifizierungsprozesse und die hochkomplexe soziale Konfiguration unserer heutigen, maßgeblich durch Migration geprägten Gesellschaften.

Nach einer einleitenden Begrüßung durch Dr. Noa K. Ha, Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integration- und Migrationsforschung, und einer Laudatio von Dr. Cihan Sinanoğlu, Leiter des NaDiRa, stellte Prof. Vertovec zunächst den Begriff der Superdiversität und die damit verbundene zentrale These vor, dass Migration kein neues Phänomen sei, jedoch seit dem 21. Jahrhundert eine neue Qualität erlangt habe. Er führte aus, dass Migrant*innen nicht länger als homogene Gruppe betrachtet werden können, sondern vielmehr eine Vielzahl von individuellen Identitäten und Lebensentwürfen widerspiegeln. In zunehmend diversifizierten Gesellschaften definierten sich Menschen nicht mehr nur über ethnische Zugehörigkeiten, sondern über eine Vielzahl von Identitätskategorien. Dies führe zu einer „Superdiversität“, in der soziale Identitäten mehrdimensional, hybrid und durchlässig seien.

Vertovec argumentierte, dass ein Verständnis von Migration, das dieser Komplexität Rechnung trägt, gerade in Zeiten, in denen vereinfachte und essentialistische Erklärungen von rechten politischen Strömungen propagiert werden, unerlässlich sei. Seine Theorie fordert eine Neubewertung von Identität und verortet Superdiversität im Spannungsfeld zwischen der Realität rassistischer Strukturen und politischen Entwicklungen in Bezug auf Integration und gesellschaftliche Vielfalt.

Die anschließende Diskussion, moderiert von Prof. Dr. Magdalena Nowicka, Leiterin der Abteilung Integration, beleuchtete die Relevanz von Vertovecs Konzept im Kontext aktueller Debatten in Deutschland, insbesondere im Hinblick auf „Kapazitätsgrenzen“ und das Verständnis von Diversifizierung in der öffentlichen Verwaltung. Dabei wurde hinterfragt, ob und wie sich staatliche Institutionen dieser neuen Realität anpassen und ob sie in der Lage sind, ein „Komplexitätsdenken“ zu entwickeln. Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt war die Rolle des Staates bei der „Produktion“ von Diversität, beispielsweise durch die Schaffung rechtlicher Kategorien für Migrant*innen. Das Gespräch nahm auch die potenziellen Risiken der Individualisierung von Claims-Making in den Blick. Am Beispiel seiner Beratungstätigkeit für die Stadt Frankfurt am Main gab Vertovec Einblicke in die Widerstände in Teilen der Politik, die Vielfalt und Mehrfachzugehörigkeit der Bevölkerung in politischen Maßnahmen zu berücksichtigen und sozialen Austausch zu fördern.

Ein zentrales Thema war die Frage, inwiefern ein „Komplexitätsdenken“ zur Bekämpfung von Rassismus beitragen könne. Prof. Vertovec argumentierte, dass das Verständnis sozialer Komplexität ein wichtiger Schlüssel zur Bekämpfung von Rassismus sei, da es vereinfachte Kategorisierungen durchbreche, die rassistische Strukturen unterstützten. Eine pointierte Frage, die während der Diskussion aufkam, war, ob es notwendig sei, Vielfalt zu „übersehen“, um Rassismus zu überwinden. Prof. Vertovec betonte, dass dies eine gefährliche Vereinfachung sei und der richtige Ansatz darin bestehe, die Vielfalt und Komplexität der Gesellschaft zu verstehen und anzuerkennen, anstatt sie zu ignorieren.

Die Veranstaltung endete mit einer lebhaften Diskussion unter den Teilnehmenden, in der verschiedene Perspektiven und Fragen der Übertragbarkeit von Vertovecs Konzepten auf nicht-westliche Kontexte wie Japan und die Philippinen sowie auf verschiedene Handlungsfelder wie das Bildungssystem angesprochen wurden.

Über den Autor 

Prof. Dr. Steven Vertovec, ist ein US-amerikanischer Sozialwissenschaftler, Ethnologe und Religionswissenschaftler. Er ist Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Zuvor war er Professor für transnationale Anthropologie an der Universität von Oxford und Direktor des British Economic and Social Research Council’s Centre on Migration, Policy and Society (COMPAS). Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Prägung des sozialwissenschaftlichen Begriffs  „Superdiversität“ und seine darauf aufbauenden Forschungen. Bis 2011 gehörte er dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration an, seine Expertise wurde darüber hinaus etwa von der Europäischen Kommission, der G8, der Weltbank und der UNESCO in Anspruch genommen.

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